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– Teil II –

 


2016

Köln, Heimat, 14.07.2016: Back in da Hood

Der Dom steht noch! Davon konnte ich mich gestern Abend selbst überzeugen, als ich nach einem Jahr und 49.000 gefahrenen Kilometern endlich wieder dort stand, wo ich losgefahren war.

 

Zeit, „Danke!“ zu sagen.

 

Danke an die lieben Menschen, die mir gestern einen großartigen Empfang bereitet haben.

Danke an meine First Lady, die mich nicht nur hat wegfahren lassen, sondern auf mich gewartet hat und immer noch da ist. Das bedeutet mir die Welt.

Danke an meine Eltern und Freunde, die mich auf jede denkbare Weise und zu jeder möglichen und unmöglichen Zeit unterstützt haben.

Danke für jeden einzelnen Gruß, Forums- und Gästebucheintrag, für jede Mail aus der Heimat. 

Ihr habt mich immer wieder gepusht und in den schwierigeren Momenten aufgebaut, vielleicht ohne es zu wissen.

 

Das nächste Abenteuer wird jetzt sein, hier nun wieder anzukommen, mich zu resozialisieren und die Erlebnisse des letzten Jahres ansatzweise zu verarbeiten. Dazu wird auch gehören, mich durch mehr als 400 Gigabyte Foto- und Filmmaterial zu wühlen und zu überlegen, was ich damit anstellen möchte. Auch am Geschreibsel habe ich großen Gefallen gefunden und kann mir vorstellen, dies in der ein oder anderen Form weiterzuverfolgen.

 

Wer daran interessiert ist und informiert werden möchte, sobald es etwas zur Tour zu sehen, hören und lesen gibt, kann mir einfach eine Nachricht zukommen lassen, zum Beispiel über das Kontaktformular . Ich schicke dann beizeiten einen Newsletter herum.

 

Auf bald!

tobi

 

Havanna, Kuba, 03.07.2016: Truckstopp II

Die Nacht war kurz. In aller Frühe verlasse ich das Hotel, um mich um das Krad zu kümmern. Mein Chauffeur wartet bereits vor dem Eingang.

In seinem klapprigen Taxi steuern wir zunächst einen Mechaniker an, von dem er behauptet, dass dieser die beste Option am Ort sei.

 

Dass wir auch hier wieder an einem Garagentor klopfen, lässt leise Zweifel an dieser These erwachsen. Zunächst geschieht gar nichts. Nach einigen Minuten sind jedoch Gerumpelgeräusche zu vernehmen, schließlich öffnet sich die Pforte und ein ziemlich junger und völlig verpennter Typ blinzelt uns entgegen. 

Während der Taxifahrer ihm erklärt, worum es geht, versuche ich ein paar Blicke ins Innere der dunklen Schrauberhöhle zu erhaschen, um anhand der Ausstattung die Chancen auf kompetente Hilfe zu errechnen. Es sieht… ok aus.

 

Andi, der Herr der Schrauben, ist grundsätzlich bereit, mir zu helfen, gibt aber zu bedenken, dass er normalerweise nur an Rollern und kleinen Moppeds bastelt. Von meinem Vergaser oder gar Motor habe er keine Ahnung. 

Mit dem Optimismus eines neuen Tages beschließe ich, es darauf ankommen zu lassen, und als ich verspreche, mit anzupacken, kommen wir ins Geschäft.

 

Jetzt gilt es aber zunächst, den Patienten einzuliefern. Wir springen also wieder in die gelbe Rostlaube und juckeln im Schlaglochslalom zur Polizeistation.

Jaimes gestrigen Ratschlag noch im Ohr, vermeide ich jeglichen Kontakt zu den Herren in Uniform und schiebe das Mopped kommentarlos vom Hof, um weiteren Trinkgeldforderungen vorzubeugen.

 

In Ermangelung einer unkomplizierten Transportmöglichkeit und angesichts der Tatsache, dass Andi nur wenige Blocks entfernt wohnt, wage ich diesmal die Abschleppvariante. Das Fahren an der Leine gelingt erstaunlich gut. Nur als es darum geht, die Panamericana zu kreuzen, wird es etwas brenzlig. 

Die Autofahrer hierzulande sind es gewohnt, Ampelsignale recht großzügig zu interpretieren, zudem nutzen sie meisterlich jede sich ihnen bietende Lücke rücksichtslos zum Raumgewinn. Und jene zwischen dem Taxi und mir ist relativ groß… Dass ein Seil dazwischen baumelt, erscheint hier   zweitrangig. 

 

Das Tauziehen endet ohne Um- oder Unfälle und wir können zu Werke schreiten. Als Hauptverdächtiger gilt der Vergaser. Wer einmal streikt, dem traut man nicht. Es folgt stundenlanges Werkeln, bis der ausgebaut, zerlegt, gereinigt und wieder eingesetzt ist.

 

Trotz teils fieser Frickelei bin ich bester Dinge. Nichts ist grässlicher, als hilflose Untätigkeit. Das Schrauben aber gibt mir das gute Gefühl, aktiv an der Lösung des Problems zu arbeiten. 

Ich habe daher auch wenig Zweifel am Erfolg unseres Schaffens und klappe den Kickstarter nach vollendeter Arbeit höchst zuversichtlich aus.

 

Die Ernüchterung folgt prompt. Jetzt tut sich gar nichts mehr. 

 

Also noch einmal alle Schläuche und Kontakte gecheckt, die Vergasereinstellung kontrolliert und dann mit viiiiel Gefühl gekickt… Na also. Sie läuft!

 

Die Probefahrt um den Block ist jetzt nur noch Formsache. Dachte ich. Denn von der Bestform sind wir meilenweit entfernt. Mehr als 50 Km/h kann ich dem Krad leider nicht abringen, bevor es sich wieder hoffnungslos verschluckt. Das reicht nicht. 

 

Wir starten noch verschiedenste Lösungsversuche, die aber allesamt erfolglos bleiben. Auf dem ruckeligen Rückweg zum Hotel bestimmen mittelstarke Niedergeschläge mein Seelenklima. Immerhin wollte Andi als Lohn für sein Tagwerk nicht mehr als meinen alten Sprit und hat mir zudem noch einen Tipp mit auf den Weg gegeben: Schwer zu glauben, aber angeblich gibt es im Ort einen autorisierten KTM-Händler inklusive Werkstatt. Die Information hätte ich heute Morgen auch schon ganz gut gebrauchen können, aber somit tut sich zumindest eine neue Handlungsoption auf und ich kann das Verzweifeln verschieben.

 

Zurück im Hotel fordert mein Kontostand als erstes ein erhebliches Downgrade ein. Ich ziehe also in eine deutlich schlichtere, aber ungleich persönlichere Pension um. 

Die gute Küchenfee – reich an Jahren und Statur – hält mich offenbar für unterernährt und tischt mir unter Augenzwinkern jeden Tag ein größeres Frühstück auf.

 

Und davon sollen noch einige folgen.

 

Denn tatsächlich findet sich am nächsten Tag ein Moppedladen mit einem richtig echten Mechaniker namens Kike, der sich zu meinem Erstaunen sogar mit KTMs auskennt, nach kurzer Begutachtung lautet sein Urteil jedoch: „Motorschaden“. 

Die gefühlte Raumtemperatur schwankt in den folgenden Sekunden mehrfach zwischen Gefrier- und Siedepunkt.

Der Blick auf die magnetische Ölablassschraube stützt leider seine grausige These. Metallspäne, groß wie Reiskörner, kleben daran und verheißen nichts Gutes.  

Kike fackelt nicht lange, sondern beginnt sofort mit dem Ausbau des Motors. Ich bin hin- und hergerissen. Die Diagnose ist fatal. Doch mit dem Wissen um das exakte Problem könnte ich wenigstens arbeiten. 

Ich packe mit an – wenn auch mehr zu meiner Beruhigung als zu seiner Hilfe.

Er arbeitet fix und ergaunert sich noch mehr Zeit, indem er sämtliche abgeschraubten Einzelteile zusammen in eine große Kiste wirft. Entweder ist der Mann wahnsinnig oder eine Art Magier. Die Not verführt zum Aberglauben.

 

In diesem Sinne könnte man es tatsächlich als Fügung höherer Mächte deuten, dass Kike zwangsläufig die Kette vom Ritzel nehmen muss, um den Motor herausnehmen zu können. Dabei fällt sein Blick auf das Kettenschloss. Mit einem Gesichtsausdruck, der ein wortloses „Dein Ernst?!“ formuliert, zitiert er mich zu sich. Sein Schraubendreher zeigt zunächst auf die offensichtlich verformte Metallklammer, die die Steckverbindung der Kette sichert, und tippt dann darauf. Diese leichte Berührung genügt. Die Klammer bricht und ihre Einzelteile fallen mit vorwurfsvollem Klirren auf den Beton. 

Der gleiche Spaß in voller Fahrt und ich wäre möglicherweise im Flugmodus abgestiegen. Egal, was noch kommt, der Werkstattbesuch hat sich bereits gelohnt.

 

Kopfschüttelnd schreitet der Meister voran.

 

Überraschend schnell liegt das Herz meines Moppeds auf dem OP-Tisch. Der Verdacht des Docs ist ebenso schnell bestätigt: Ein Lagerschaden hat zum Nock-Out der Welle geführt. Und das wiederum zur völligen Steuerbefreiung zweier Ventile. Endlich ergeben die Symptome Sinn. Mit einem Herzklappenfehler sprintet es sich schlecht.

 

Ich selbst bin noch nicht total zerstört, aber doch am Boden. Für ein Modell, das man in Peru nie kaufen konnte und das selbst in Deutschland nicht mehr produziert wird, findet sich hier sicherlich keine neue Nockenwelle. Die Recherche der freundlichen Damen im Verkauf gibt mir recht. Das Teil ist selbst in den Nachbarländern nicht verfügbar. Aus der Heimat schicken lassen ist leider auch keine Option.

 

Die Erinnerung daran, wie ich in Japan ausgebremst wurde und in Chile wochenlang auf die verschollene DHL-Sendung warten musste, wird wieder wach. So viel Zeit habe ich nicht. Schließlich wollte ich in zwei Wochen verschiffen, um rechtzeitig wieder in Köln einfahren zu können. Und zwar von Cartagena aus, das gute 3000 Kilometer nördlich an der Karibikküste Kolumbiens liegt. 

 

Der Schrauberer zeigt sich gelassen und auch die restliche Belegschaft macht mir Mut. Sie berichten, dass fehlende Originalteile hierzulande nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind. Man habe in Peru jedoch einen entscheidenden Vorteil: „¡Magia!“. Obwohl ich so etwas ja schon vermutet hatte, frage ich nach, um welche Art der Magie es sich denn handeln mag.

 

Nicht ohne Stolz erklärt man mir, dass die Peruaner gezwungenermaßen Improvisationsweltmeister seien. Was es nicht gibt, wird selbst gebaut oder Altes restauriert. Selbst eine Nockenwelle. Gar kein Problem.

 

Kike stellt mir in Aussicht, das Krad in zwei, drei Tagen wieder fit zu machen. Das würde ich nur allzu gerne glauben. Also tue ich es.

 

In den folgenden Tagen vertreibe ich mir die Zeit damit, magendarmkrank zu werden und meine Kreditkarte zu verlieren. Ersteres schiebe ich auf die lokale Spezialität Cevice, eine Mischung aus Suppe und Salat auf der Basis rohen Fisches und scharfer Sauce. Letzteres auf meine Schusseligkeit auf der Basis von Stress und Übermüdung.

 

Immerhin war ich kluk genug, eine Ersatzkarte in meinem Portemonnaie sowie Euroreserven in meinem Motorrad zu verstecken. So bleibe ich zumindest flüssig.

 

Neben dem Gerangel mit selbstgemachten Problemchen gehört eine tägliche Werkstattvisite zum neuen Alltag. Stundenlang sitze ich dort herum, um mich abends auf den nächsten Tag vertrösten zu lassen. Zuvielzutun, Dauertlängeralsgedacht, Teilenochnichtda. Mañana, Indianer.

 

Auch die virtuellen Zwischenrufe aus den konsultierten Internetforen machen wenig Hoffnung. Die einhellige Meinung dort ist, dass eine Notreparatur ohne Originalteile kaum gelingen kann. Die real existierenden Freunde und Bekannten in der Heimat, auf deren Sachverstand ich noch etwas mehr gebe, sagen leider das Gleiche. Deutsche Rationalität schlägt peruanische Magie.

 

Währenddessen rückt der längst vereinbarte Verschiffungstermin immer näher. Die ständig wachsende Anspannung versteckt sich nicht länger im Neuronengewirr meines Hauptes, sondern zeigt erstmals körperliche Wirkung. Auch wenn ich mich sonst nie mit derlei Unsinn herumschlagen muss, plagen mich plötzlich Kopfschmerzen und mein rechtes Augenlid schickt sich in seinen Zuckungen an, einen Joe-Cocker-Ähnlichkeitswettbewerb zu gewinnen.

 

Unter diesen Bedingungen habe ich nun eine Entscheidung zu treffen, die mir alles andere als leichtfällt. Ausnahmslos alle Motorradreisenden, die aus dem Norden kamen, haben mir erzählt, dass Kolumbien eines der schönsten, wenn nicht sogar DAS schönste Land Südamerikas sei. Ich aber muss dieses letzte große Ziel nun schweren Herzens aus Navi und Hirn löschen. Selbst wenn Kike an meinem Krad Wunder vollbringen und es wieder zum Laufen bekommen sollte, ist eine derart lange Tour mit einem nur provisorisch zuammengefrickelten Mopped zu riskant. Möglicherweise ein zweites Mal liegen zu bleiben, kann ich mir weder zeitlich noch finanziell leisten.

 

Ich werde nicht von Kolumbien verschiffen können, sondern muss es von Lima aus versuchen.

 

Bei dieser Gelegenheit spüre ich wieder einmal, wie befreiend es sein kann, nach ewigem Hin-und- her-Wälzen aller Aspekte endlich eine Entscheidung zu treffen; auch wenn diese unangenehme Konsequenzen mit sich bringt. 

 

Nicht nur, dass ich den Vertrag mit der einen Frachtgesellschaft auflösen muss, ungleich komplizierter dürfte es nun sein, innerhalb weniger Tage eine neue zu finden.

Verschiffungsgeschichten hört man im Gespräch mit anderen Bikern bei jeder zweiten Gelegenheit. Jene, die in Lima spielen, haben jedoch selten ein Happy End.

 

Mein ursprünglicher Spediteur zeigt sich zwar äußerst kulant, was die Vertragsauflösung angeht, kann mir vor Ort allerdings nicht weiterhelfen. Seit sein letzter Kunde 9 Monate auf sein Motorrad warten musste, habe er die Connection Lima-Hamburg aufgegeben. Dabei sei es pures Glück gewesen, dass er es überhaupt wieder irgendwann in Empfang nehmen konnte. Aufgrund bürokratischer Ungereimtheiten sei der limanistische Zoll drei Mal kurz davor gewesen, das Motorrad zu konfiszieren. 

 

Unangenehm.

 

Aber so schnell gebe ich nicht auf, sondern durchforste die Tiefen des Netzes nach den Erfahrungen anderer Weltgereister. Viele Berichte zu dieser Route sind ebenfalls haarsträubend, nur einer ist positiv. Und zwar derart, dass ich sofort misstrauisch werde. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand die Bewertungen zu seiner Firma kauft oder kurzerhand selbst verfasst. Also hake ich nach. Die Adresse der beiden Motorradreisenden ist schnell gefunden. Überraschenderweise kommt die Antwort prompt und beinhaltet auch noch genau die Punkte, die ich jetzt brauche: Verlässlich, freundlich, professionell.

 

Der Mann, der diese Attribute angeblich auf sich vereinen soll, heißt Eduardo und überzeugt schon im Erstkontakt. Einen Tag später flimmert ein durchaus annehmbarer Kostenvoranschlag auf meinem Laptop-Bildschirm und kurz darauf steht der Deal.

 

Genauso schnell habe ich einen Termin in seinem Büro. Am Mittwochmorgen muss ich in Lima sein. Nur so kann ich den angepeilten Termin zur Rückkehr ungefähr halten. Das sind fünf Tage, ist also ambitioniert. Aber entweder die Kiste rollt bis dahin wieder selbsttätig oder sie fährt zurück, wie sie hergekommen ist: auf der Ladefläche irgendeines Lkws.

 

Mit neuem Elan schalte ich aus dem Lethargie- wieder in den Aktivmodus und mime den nervigen Kunden. Als man mir ein weiteres Mal erzählen möchte, dass noch Teile fehlen, insistiere ich: „Keine Verhandlungsbasis. Ich MUSS am Montag starten, um am Mittwoch in Lima zu sein!“

 

Plötzlich geht es doch. Montag um zwei Uhr sei alles fertig, verspricht man mir. Und so checke ich an diesem Tag aus und stehe pünktlich um 2 mit all meinem Geraffel vor dem Werkstatttor. 

Dass mein Krad abends um sieben immer noch einer Großbaustelle gleicht, war möglicherweise abzusehen, lässt aber dennoch meine Halsschlagader schwellen.

 

Ich bündele all meinen Grimm und lasse ihn als Konzentrat von Zorn, Appell und Bitte auf die Werkstattcrew herabregnen. Ich erwirke damit zwar keine Nachtschicht, erreiche aber zumindest, dass Kike eine Stunde später Feierabend macht und verspricht, morgen eine Stunde früher als üblich loszulegen.

 

Und so checke ich am Dienstag aus und stehe pünktlich um 7 mit all meinem Geraffel vor dem Werkstatttor.

 

Ein weiterer Handlanger und ich fassen mit an, wo wir nur können, trotzdem wird es spät, später und schließlich Nachmittag, bis mein Krad zusammengepuzzelt ist und – wer hätte das zu hoffen gewagt – wirklich und wahrhaftig läuft!

 

Die Probefahrt um den Block ist verheißungsvoll. Ich habe das Gefühl, über 10 PS mehr zu verfügen. Ich. Bin. Glücklich. Zwar schmerzt die Rechnung ein wenig, doch die Freude überwiegt bei weitem. Schnell ist das Mopped bepackt, noch zwei, drei Erinnerungsfotos mit der Truppe und schon brutzele ich von dannen.

Kurz hinter der Stadtgrenze wartet die erste längere Steigung auf uns…

 

…und zwingt das Krad in die Knie. So nahe wie in diesem Moment war ich dem Wahnsinn selten. Mein erster Impuls ist es, das Ruckeln und Stottern schlicht zu ignorieren. Aufgrund der vor mir liegenden Wüstenstrecke besinne ich mich jedoch eines Besseren und kehre um.

 

Als ich eine halbe Stunde später wieder dort einrolle, wo ich nie wieder hatte hin zurückkehren wollen, ist mir nach aktivem Gendern zumute. Doch heulen hilft jetzt auch nicht weiter.

 

Kike leidet sichtlich mit. Sein Ehrgeiz war stets meine Hoffnung. Während er tapfer beginnt, noch einmal alles durchzugehen, starre ich stumpf vor mich hin und gehe meinerseits die nun möglichen Szenarien durch.

Im Hinterkopf hallt die Frage meines Dads wider: „Willst Du den Schrott wirklich teuer nach Deutschland verschiffen oder vielleicht doch lieber billig in Peru verticken?“.

Tja, vielleicht bleibt nur das: Pick-Up nach Lima organisieren, Verkaufsprozedere recherchieren, Händler kontaktieren, fertig, aus, raus.

 

Viel zu schnell findet Kike etwas, von dem er meint, dass dies das Problem sei. Der Chokezug am Vergaser war eingeklemmt, sodass der mehr Sprit vorgesetzt bekam als er schlucken konnte. Das klingt logisch und die nächsten fünf Runden um den Block sind auch tatsächlich ruckelfrei und angenehm unauffällig. 

 

Ich wage es. Wieder aus der Stadt heraus gewuselt, die erste Steigung: geschafft. Weiter.

Ich traue mich kaum, unter Volllast zu fahren, bin für jedes Geräusch, jede Vibration hypersensibel und feiere jeden gefahrenen Kilometer.

Echte Freude oder gar Entspannung will sich jedoch nicht einstellen. Ich merke, dass ich jegliches Vertrauen in mein sonst so treues Krad verloren habe und wie mich die Erwartung, jeden Moment wieder liegen zu bleiben, martert.

Als es dunkel wird, halte ich nicht, wie gewohnt, nach einer Campingmöglichkeit Ausschau, sondern bleibe im Sattel. Ich kann es nur annähernd pünktlich zum Termin in Lima schaffen, wenn ich mir spät ein Hotel suche und früh wieder starte.

 

Es ist ein Gesetz des Teufels, dass ich immer dann von den Ordnungshütern herausgewunken werde, wenn ich es am wenigsten gebrauchen kann. Weder habe ich die Zeit, noch die Nerven, jetzt den Motor zu stoppen und zu riskieren, dass das Starten erneut Probleme bereitet. Der Herr Motorradpolizist besteht aber leider darauf, dass ich den Schlüssel herumdrehe, und erklärt mir dann etwas halbherzig, ich sei über Rot gefahren. 

Das ist so offensichtlicher Humbug, dass ich lächelnd und mithilfe ausladender Zeichensprache darlegen kann, dass ich stets warte, bis der Leuchte-Countdown heruntergezählt ist und mir grünes Licht gibt. 

„Ach ja?“ 

„Ja.“

„Soso… Hast Du Kettenspray?“

Schlagartig gewinnt mein Lächeln an Ehrlichkeit, ich springe vom Krad und kann ihm nach zwei Handgriffen eine Dose edelsten Öltropfens unter die Nase halten. Nun lächeln wir beide und es ist Ehrensache, dass ich seine bemitleidenswerte, endlose Rostigkeit höchst selbst einfette. Mit einem freundschaftlichen Handschlag werde ich verabschiedet, der Motor zeigt sich ebenfalls gütig und ich brause davon.

 

Ich bin begeistert. So einfach war es noch nie, die Cops zu schmieren.

 

Plangemäß fahre ich in die Nacht hinein, schlafe ein paar Stündchen in einem Hotel, um dann noch vor der Sonne aufzustehen und die letzte Etappe anzugehen.

 

Lima und seine Vororte begrüßen mich mit dem gewohnten Chaos, die letzten Kilometer in Südamerika hatte ich mir ursprünglich schöner vorgestellt.

In den Container darf das Krad nur mit leerem Tank und so kalkuliere ich möglichst knapp und rolle buchstäblich mit dem letzten Liter der Reserve bis vor Eduardos Büro.

 

Um 11 Uhr 40 führt der Kolben seinen letzten kontinentalen Hub aus. 10 Minuten zu spät. Angesichts des Dramas der letzten Tage vertretbar, möchte ich meinen.

 

Eduardo..? Nicht am Platz.

 

Wie die Geschichte nun weitergeht? Lassen wir uns überraschen…

 

Trujillo, Peru, 24.05.2016: Truckstopp

Die letzten beiden Wochen meiner Reise verlaufen recht ereignislos. Ich quere Peru, Ecuador und Kolumbien ohne Probleme, mache ein paar lustige Selfies am Äquator (Ich springe hoch, so dass es aussieht, als könne ich fliegen!), koste köstlichen Kaffee auf kolumbianischer Plantage und genieße die nun gezählten Tage auf dem Krad bei Kaiserwetter; bevor ich das Mopped schließlich in Cartagena verlade und nach Hamburg schicke.

 

…so oder so ähnlich hätte die Geschichte enden können. Da es mir jedoch nur gestattet ist, sie nachzuerzählen, nicht aber selbst zu schreiben, muss ich mich dem ergeben, was der Fügung Feder zu kritzeln geneigt ist. Demnach sollten sich die letzten Tage ein wenig aufregender gestalten…

 

Mein Weg führt mich aus dem Hochland herab an die Küste im Westen Perus und damit erneut auf die Panamericana.

 

Doch der klingende Name jener berühmten Route kann nicht halten, was er verspricht. Im Gegenteil. 

Diese Gegend könnte jedem Mad-Max-Film als perfekte Kulisse dienen. Wie auch im Nordwesten Chiles finde ich mich hier in der Wüste wieder. Einer Wüste aus Stein, Sand – und Müll. Viel davon. Durchsäht von Abfall und Unrat, durch den steten Wind über alle Ebenen verteilt. Ich passiere Geisterdörfer und solche, die noch bewohnt werden. Dabei sind letztere kaum attraktiver. Nur selten lässt sich in dieser Umgebung jemand zu dem aussichtslosen Kampf gegen die Unwirtlichkeit hinreißen und pflanzt ein, zwei klägliche Bäumchen vor seine Hütte aus Bambus, Holz- und Blechresten.

An diesem Tag liegt zu allem Überfluss über allem ein schwerer, trüber Nebel, der die Szenerie in gelbliches Zwielicht taucht und den apokalyptischen Anblick abrundet.

 

Je näher ich der Hauptstadt komme, desto lichter wird das Gewölk. Da der Verkehr hingegen exponentiell zunimmt, ein höchst willkommener Umstand. Nicht zuletzt, da die peruanischen Autofahrer auch in dieser Gegend alles dafür tun, ihrem Ruf als südamerikanische Rekordhalter im Unter-aller-Sau-Fahren gerecht zu werden. 

In solch angespannten Verkehrslagen kommt es nicht selten vor, dass plötzlich der Bundestrainer höchstpersönlich hinter mir sitzt und in regelmäßigen Abständen nach vorne ruft: „Un jetz, Tobias! Höggschde KON-ZEN-TRATION!“. Gemeinsam schaffen wir es auch in dieser Metropole, uns durch die hoffnungslos verstopften Umgehungsstraßen zu wühlen. In nur einer Stunde sind wir außerhalb der Stadtgrenzen. Von hier an schaffe ich es wieder alleine. 

 

Weiter nördlich gönne ich mir in einem kleinen Örtchen eine ebensolche Pause und meinem Krad neuen Sprit. Als Belohnung für die vergangenen Strapazen bekommt es wie gewohnt nur den besten Stoff. Hier gibt es sogar 97 Oktan. Damit sollte es schnurren wie ein kleines Kätzchen.

 

Tut es aber nicht. Bereits nach wenigen Metern verschluckt sich das Mopped und bekommt einen Hustenanfall. Ich fahre langsam aus dem Ort hinaus, damit es sich erholen kann. Doch es wird nicht besser, sondern mit jedem Kilometer schlimmer.

 

Insbesondere an Steigungen gebärdet sie sich wie in großer Höhe, stockt, prustet und bockt. Solche Symptome kenne ich nur von Andenpassagen mit miesem Benzin. Es kam bisher selten vor, dass ich laut gefleht habe, aber in dieser Situation fällt mir nichts Besseres ein. „Bitte nicht jetzt! Nicht hier!“, rufe ich in die Dünen, mittlerweile mehr als 30 Kilometer von der letzten Zivilisation entfernt.

Doch ich werde nicht erhört. Egal, was ich mit dem Gasgriff anstelle, sie nimmt das Gemisch immer widerwilliger an, bis die Kraft nur noch reicht, um auf dem Seitenstreifen auszurollen. Aus.

 

Der erste Gedanke gilt meinen Wasser- und Futtervorräten. Vorhanden, aber mickrig. Der zweite der möglichen Ursache. Der Sprit! Es kann nur am Sprit liegen. Ich muss die Plörre loswerden und durch das gute Zeug im Ersatzkanister ersetzen. Eine kurze Kalkulation ergibt, dass dessen drei Liter plus die Reserve ausreichen sollten, um mich ins nächste Kaff zu bringen. 

Und somit wird der Biologe in der Not zur Umweltsau. Ich sehe keine andere Möglichkeit, als das frisch gezapfte Benzin nach und nach in eine leere Wasserflasche abzulassen und in den Sand zu kippen. Zum ersten Mal fluche ich über die stolze Kapazität von 25 Litern. Gewässer kann ich an diesem Ort zumindest nicht verunreinigen; um die Sandwürmer tut es mir ein wenig leid.

 

Nach zwei, drei Flaschen besinne ich mich allerdings. Auf die Reserve kann ich separat zugreifen. Und die ist alt, also gut!

 

Ich lasse den schlechten Sprit aus dem Vergaser und da der E-Starter seit Tagen Urlaub macht, kicke ich einige Male… Bis sie tatsächlich kommt. Und wieder geht.

Viele Versuche später kann ich sie hoch am Gas zumindest am Leben erhalten. Ich springe auf und sprötzele mit Nichtgeschwindigkeit auf eine Menschengruppe zu, die ich seit einigen Minuten am Horizont ausgemacht habe. 

 

Kurz wundere ich mich über die Polizeipräsenz und darüber, dass man kaum Notiz von mir nimmt. Dann sehe ich die Markierungen auf dem Asphalt und begreife, dass ich hier relativ fehl am Platz bin. Weit verstreute Plastikteile zeugen davon, dass der Unfall heftig war und noch nicht lange her ist. Zeugen, vielleicht Angehörige, führen die Uniformierten mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf umher, ein Protokollant nimmt alles auf.

 

Ich halte mich im Hintergrund und warte, bis man auf mich zukommt. Es ist der Schreiberling, der zuerst auf mich aufmerksam wird und seine Chance wittert, mit technischem Fachwissen zu beeindrucken. Als wolle er einen Freestyle-Battle gewinnen, plappert er auf mich ein und stellt so viele Fragen, dass ich mit den Antworten nicht hinterherkomme. Sein Urteil ist schnell gefällt und lachend an alle nun Umstehenden kolportiert: Ein Gringo, leichtsinnigerweise solo unterwegs und verrückterweise ohne jegliche Kenntnis des Spanischen, reist mit einem Motorrad, von dem er ebenso wenig versteht. 

Der in mir aufsteigenden Wut erteile ich einen Platzverweis. Alleine komme ich hier nicht weg und wer Hilfe will, muss freundlich sein.

Ich lasse den Meister höchstselbst zu Werke schreiten und schaue ihm – durch stilles Amüsement besänftigt – bei seinen Kickversuchen zu. Er verzichtet auf den Dekozug, wodurch rein gar nichts geschieht, außer dass er sich ein wenig weh tut. Sehr gut. Muss ich das nicht machen.

 

Es herrscht jetzt die einhellige Meinung, dass ich einen Transport in die nächste Stadt brauche. Wie praktisch, dass die örtliche Ordnungsmacht über einen Pick-up verfügt. Wie typisch, dass sie an dieser Stelle ihre Zuständigkeiten überschritten sieht und mich abblitzen lässt. Immerhin helfen mir die Beamten nun, indem sie die sporadisch vorbeifahrenden Lkw stoppen und an der Kanzel für meine Mitnahme werben. Die ersten drei Trucker lehnen ab, der vierte tut dies nonverbal, ignoriert den Haltebefehl und rauscht durch. Das finde ich einerseits ein bisschen witzig, andererseits kostet es mich 20 Minuten, bis die Cops von der Verfolgung zurückkehren und weiter winken.

 

Nach anderthalb Stunden habe ich Glück. Ein Laster voller leerer Hühnerkäfige hält und dessen Fahrer erklärt sich bereit, zu helfen. Da die Ladefläche voll ist, macht sich mein spezieller Freund sofort daran, das Krad an der Anhängerkupplung zu vertäuen. Er ist der einzige, der von der Idee überzeugt ist, alle anderen schauen skeptisch. Das erste und letzte Mal, dass ich gesehen habe, wie ein Motorrad abgeschleppt wurde, war im Rahmen der Rallye Dakar. Während ich darüber nachdenke, ob ich das für machbar oder zumindest für eine coole Variante halte, zu Tode zu kommen, erlöst mich der Lkw-Fahrer mit den Worten: „Ja… oder wir machen doch Platz auf der Ladefläche.“ 

 

Wenig später ist das Mopped auf den Truck gewuchtet und ich sitze neben meinem Retter Adolpho („¡Como Hitler!“) im Führerhaus auf dem Weg zur nächsten Stadt mit Mechanikern.

 

Dort angekommen, erweist sich die einzige Adresse im Ort jedoch als Enttäuschung. Bereits der erste Blickkontakt mit dem in ranziger Garage hausenden Schrauber verschafft mir ein ungutes Gefühl. Als er dann auch noch ohne einen Blick aufs Mopped geworfen zu haben, behauptet, die Sache sei in zwanzig Minuten erledigt, winke ich ab.

Adolpho bestätigt mich in dieser Entscheidung und empfiehlt mir, es im 200 Kilometer nördlich gelegenen und deutlich größeren Trujillo zu probieren. Mit der Idee, noch einmal einen entspannten Stadtstopp zu machen, um ein paar Dinge erledigen zu können, hatte ich dort ohnehin ein Hotelzimmer reserviert. Der einzige Haken: Adolphos Weg führt zuerst zur örtlichen Hühnerfarm und dann wieder gen Süden. 

 

Nach ein paar Nachrichten und Telefonaten vermittelt er mich allerdings an einen Kollegen, der Trujillo ansteuert. Und so stehe ich nach einer weiteren Stunde vor einem riesigen Lastwagen, der bis oben hin mit Zwiebeln beladen ist.

So sehr ich mich über das Hilfsangebot freue, dort passt der Patient beim besten Willen nicht drauf. 

 

Jaime sieht das anders. Er schlägt vor, das Mopped einfach zwischen Zugmaschine und Anhänger festzubinden. Ich bin skeptisch, stimme angesichts der überschaubaren Alternativen jedoch zu. 

 

Meine Koffer und Taschen finden zwischen dem Gemüse Platz und ich selbst im Führerhaus zwischen Jaimes Frau und deren dreijähriger Tochter. Olfaktorisch ist dieser Ort durch die Kombination von Zwiebel- und Windelgeruch zwar eine Herausforderung, aber ich bin glücklich, so schnell eine zweite Mitfahrgelegenheit gefunden zu haben.

 

Es folgt ein lehrreicher Perspektivwechsel. Mit Dreißigtausend statt 60 Kilo Ladung im Rücken kann ich Schleicheinlagen am Berg und raumgreifende Fahrmanöver in Kurven nun deutlich besser nachvollziehen. Von hier oben wirken all die kleinen Moppeds um uns herum wie lästiges, lebensmüdes Geschmeiß. 

 

Da wir zum Teil nur mit 20, 30 Stundenkilometern vorwärtskommen, wird es spät und später und ich immer müder. Stadtdurchfahrten mit diversen Abbiegungen verschaffen mir jedoch genügend Adrenalinkicks, um wach zu bleiben. Dass sich zwischen Zugmaschine und Hänger noch ein recht großes, unflexibles Objekt befindet, haben die Konstrukteure nicht vorgesehen. Mehr als einmal entgeht mein Krad nur äußerst knapp dem Tod durch Zerquetschen.

 

Erst unter diesen Eindrücken dämmert mir, dass Jaime mich sicherlich nicht zum Hotel in der Innenstadt kutschieren kann. Leider gibt er mir recht, hat aber einen guten Einfall.

Lange nach Einbruch der Dunkelheit kommt der Lkw mit ächzenden Bremsen vor der Polizeistation Trujillo zum Stehen. Den Erstkontakt überlasse ich Jaime. Das Reden auch. Mein Part ist es, dem Sheriff stets ergeben zuzulächeln und gleichzeitig möglichst hilfsbedürftig auszusehen. Der Plan geht auf. Das Krad darf über Nacht zwischen den blechernen Opfern des lokalen Straßenverkehrs schlafen. Nicht schön, aber sicher. Die Bedingung ist ein „Trinkgeld“ sowie die Zusage, das Mopped morgen in aller Frühe wieder abzuholen. 

 

Mit Hilfe eines spontan rekrutierten Passanten schaffen wir es, den kranken Passagier vom Laster zu heben, bevor Jaime unter ausführlicher Dankesbekundung meinerseits wieder seines Weges brummt. 

 

Das Hotel ist deutlich schicker als erwartet und bildet einen wundervollen Kontrast zu meiner eigenen Erscheinung. Ich stinke mindestens nach Benzin und Zwiebeln, bin ölverschmiert und stecke in zerschlissenen Klamotten, die ebenfalls vor Dreck starren. Der Blick der Rezeptionistin entschädigt für so manche Unannehmlichkeit des Tages.

 

Ich bin großer Fan solcher Situationen. Und da ich übers Netz einen super Wochenend-Deal geschossen hatte, kann ich auch noch einen draufsetzen.

 

„Haben Sie reserviert? Was denn für ein Zimmer?“

„Die Suite.“

 

Obwohl ich todmüde bin, lasse ich Wasser in den Jacuzzi (aus Prinzip) und den Tag noch einmal Revue passieren (aus Ungläubigkeit). Dass ich morgens nicht weiß, wo ich abends lande, kam in den letzten Monaten regelmäßig vor. Aus der Wüste in den Whirlpool ist jedoch bisheriger Höhepunkt grotesker Erlebnisse. 

 

Wie die Geschichte jetzt weitergeht?

Lassen wir uns überraschen. 

                                                                                              

To bi continued

 

La Paz, Bolivien, 01.05.2016: Startschwierigkeiten

Zugegeben, der letzte ernstzunehmende Lauf hat, wenn man von sporadischem Alibi-Getrabe an ein, zwei Stränden absieht, irgendwann in grauer Vor-Tour-Zeit stattgefunden.

 

Nichtsdestotrotz erinnere ich mich noch sehr gut daran, wie es ist, nach einiger Zeit in den Fluss zu kommen, die Anstrengung zu vergessen und gefühlt immer weiter laufen zu können.

 

Ebenso präsent ist mir aber auch die Situation, dass man – schon einige Kilometer in den Knochen –  plötzlich zur Pause gezwungen wird und anschließend wieder neu starten muss. Die Beine mit einem Mal bleischwer und die Pumpe kaum zur erneuten Leistungssteigerung zu überreden.

 

So fühle ich mich jetzt.

 

Es ist nicht so, dass ich mich nicht tierisch darauf freuen würde, endlich wieder unterwegs zu sein…

 

Doch so unwirklich entrückt und emotional anstrengend der ungeplante Heimatbesuch war, so ungewohnt entspannend waren die drei Wochen danach.

Erst ein Surf-  und Roadtrip mit einem der besten Typen, die die Heimat zu bieten hat, anschließend noch ein paar wunderschöne Tage in Rio und Umgebung mit der First Lady. Köstliche Caipis am Strand und Kokosnüsse im Pool schlürfen, zwischendurch ein Mondscheindinner mit Blick auf die Wellen. Dazu Übernachtungen in klimatisierten Unterkünften mit weichen Betten, paradiesischen Gärten und fürstlichem Frühstück… Luxus pur.

 

Und jetzt wieder ins Zelt, in den Staub, in die Hitze?

 

Ein wenig Schonzeit ist mir aber noch vergönnt, immerhin muss ich zuerst zurück nach Sao Paulo fliegen, wieder Ordnung in mein Gepäckchaos bringen und aufsatteln.

Die Wiedersehensfreude mit meinem Mopped und seinen Pflegeeltern, Ligia und Luca, ist groß. Kaum sehe ich das staubige Krad, merke ich, wie sehr ich es vermisst habe.

 

Um die wochenlange Vernachlässigung wiedergutzumachen, will ich ihm ein kleines Wellnessprogramm gönnen: Ölwechsel, Ketten- und Luftfilterreinigung sowie ein neuer Ersatzreifen sollen uns wieder etwas näher zusammenbringen, bevor es weitergeht.

 

Doch so leicht ist die Dame offensichtlich nicht rumzukriegen. Beim ersten Startversuch läuft sie zwar an, bockt dann aber gewaltig und verweigert bald darauf die Arbeit vollständig. Beziehungserprobt wie ich bin, zeige ich mich reumütig, verständnisvoll, einfühlsam. Doch je öfter ich es versuche, desto knapper ihre Antworten. Bis sie irgendwann gar nichts mehr sagt, die Batterie leergenudelt und mein rechtes Bein müdegekickt ist.

Selbst als ich mein gesamtes Fachwissen, meine ganze Erfahrung zusammennehme und in einem finalen Expertenstreich anwende (eine halbe Stunde abwarten und dann nochmal versuchen) geschieht… nichts.

 

Überraschenderweise finden sich in Sao Paulo gleich zwei KTM-Dealer; weniger überraschend, aber dennoch ärgerlich ist, dass man sich meiner frühestens Anfang nächster Woche widmen will. Dafür sind die Kohlen, auf denen ich nervös hin- und herrutsche eindeutig zu heiß.

 

Es bleibt die Option, es mithilfe von Internetforen und einem von Lucas Schrauberfreunden selbst zu versuchen. Thomas spricht seinem Namen zum Trotz zwar kein Wort Deutsch und höchstens fünf Englisch, hatte aber schon bei unserer ersten Begegnung vor einigen Wochen den Eindruck hinterlassen, dass er sich mit dem Innenleben von Motoren und Vergasern bestens auskennt.

 

Solange, bis er Zeit für die Kraduntersuchung hat, bin ich vornehmlich mit Recherche und Fremdanamnese beschäftigt (sie selbst schweigt beharrlich) und damit, Lucas ungestümen Tatendrang zu zügeln. Am liebsten würde er jede in einem seiner vielen Foren gefundenen Ideen sofort umsetzen und sämtliche infrage kommenden Teile an Ort und Stelle auseinanderschrauben. Ich hingegen habe keine Lust, auf gut Glück Dinge auseinanderzunehmen, die ich gerade einmal beim Namen nennen kann und noch nie von innen gesehen habe.

 

Bis Thomas am nächsten Tag auftaucht, sind die Pläne, wie, wann und wo wir am besten schrauben, bereits drölf mal umgeworfen worden. Ich bin genervt, mir ist mittlerweile alles egal, sofern wir nur endlich loslegen.

 

Nach kurzer Diagnose steht der Vergaser im Fokus der Untersuchung. Er wird Schritt für Schritt freigelegt und schlussendlich komplett ausgebaut.

 

Währenddessen wird Luca immer quietschiger („Sie läuft bestimmt gleich wieder!“, „Hey Mann, alles eeeasy!“, „Bleib locker!“) und ich immer ruhiger. So stressresistent ich auch zu sein glaube, der Anblick des Kabel- und Schlauchgewirrs, aus klaffender Wunde quellend, bringt mich an die Grenzen meiner Coolness.

Einzig Thomas´ Gemüt eines tiefenentspannten Bären besänftigt mich und als er nach eingehendem Gefummel und Gepuste am Innersten des Vergasers schließlich verkündet: „Hier haben wir´s doch! Es ist das Nadelventil.“, schöpfe ich Hoffnung.

 

Das Problem scheint der schlechte Sprit gewesen zu sein, der in Kombination mit der brasilianischen Hitze binnen kurzer Zeit alles verklebt. Ich hatte vor meiner Abreise extra noch das teuerste Benzin getankt, das zu finden war.

Aber in einem Land, in dem man Alkohol nicht nur zum Eigenkonsum, sondern gerne auch als Treibstoff nutzt, ist das offensichtlich kein Garant für bessere Qualität.

 

Brav komme ich jetzt jeder von Thomas´ Anweisungen nach, schraube, säubere und besprühe wie mir aufgetragen und bin stolz wie ein Junge im ersten Lehrjahr, dafür ein gutmütiges Nicken zu ernten.

 

Ganz gegen die Tradition bleibt nach dem Wiedereinbau nicht eine einzige Schraube übrig, sodass ganz unvermittelt der Moment der Wahrheit gekommen ist.

Zögerlich nähert sich mein Finger dem Startknopf und…

BÄMM! Ohne Wenn und Aber springt sie an und läuft – laut, aber rund. Es braucht seinen Moment, bis die Endorphine ihre Rezeptoren erreicht haben, dann aber macht es „klick“ und ich grinse über das ganze Gesicht.

 

Jetzt könnte es eigentlich losgehen. Eigentlich. Ich habe die Rechnung allerdings ohne Otto gemacht, dem völlig unerzogenen Dobermann-irgendwas-Mischling meiner Gastgeber mit ausgeprägter Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung und dem Drang, alles zu fressen, was ihm zwischen die Zähne kommt.

 

Ich hätte daraus lernen können, dass er bereits bei meinem ersten Besuch die Lederscheide eines als Geschenk bestimmten Messers verspeist hatte. Habe ich aber nicht, sondern stattdessen zu sehr auf den Schließmechanismus meiner Zimmertür vertraut.

 

Und so kommt es, dass sich mir abends bei der Rückkehr vom vermeintlichen Abschiedsessen ein grausiges Bild darbietet: Aus purer Bosheit oder zumindest großer Langeweile hat die Töle ein monströses Matten-Massaker angerichtet und mein hochgeschätztes Therm-a-Rest-Bett in feine Streifen gerissen. 

 

Ich bin stinksauer, verweigere ab jetzt konsequent jeden Hundepielzeugwurf und denke über Methoden des langsamen Vergiftens nach. Dem kommt Otto am nächsten Tag jedoch fast zuvor, indem er meine Luftfilter-Dichtmasse frisst. Das zeugt in seiner Stumpfheit, gepaart mit treudoofstem Blick, von derartig hilfloser Zwanghaftigkeit, dass meine Wut langsam verraucht.

 

Einen weiteren Tag später ist dann auch eine Ersatzmatte aufgetrieben und das Krad abfahrbereit.

Nach einer herzlichen Verabschiedung von Ligia und Luca sowie einem Versöhnungswurf für Otto kann es also tatsächlich losgehen.  

 

Natürlich passiert auf dem Weg aus der Stadt noch das, wovor die beiden „Paulista“ mich gewarnt hatten: Im heillosen Gewirr der Straßen Sao Paulos komme ich von der Route ab und verirre mich immer tiefer in die Siedlungen der einfachen Hütten. Als die Straßen zu schmal und die Bewohner zu neugierig werden, versuche ich mich wieder an die Hauptstraßen zu halten, sodass auch mein Navi wieder die Orientierung erlangt und mich am Ende doch zur Autobahn leitet.

 

Als ich nach zwei Stunden an einem Truckstop die erste Pause einlege, bin ich noch zu gestresst, um die wiedererlangte Reisefreiheit genießen zu können.

Doch dann sind da drei kleine Szenen, die das ändern.

 

Hier ein Landstreicher, in zerschlissener Kleidung auf einer Bank sitzend, in sich gekehrt, den Blick zu Boden gerichtet. Welches Ziel auch immer er haben mag, er wird Tage dorthin brauchen, wo ich in Stunden bin.

 

Ein paar Meter weiter eine Familie, die voller Hingabe vor großen Figuren aus Pappmaché posiert, die der Raststätte den Anstrich eines Erlebnisparks geben sollen. Begeistert, in einem Gorilla, einem Dinosaurier sowie zwei Cowboys exotische Fotomotive gefunden zu haben, die sie stolz ihren Freunden zeigen können.

 

Zuguterletzt ein einfaches, aber anerkennendes „Viel Glück, gute Reise!“ von einem älteren Herrn, der ganz offensichtlich sehr gerne mit mir tauschen würde.

 

„Verdammt, Du hast ein unverschämtes Glück!“, höre ich mich denken. Und während ich aufs Krad steige, merke ich, dass meine liebsten drei Mitreisenden bereits Platz genommen haben. Willkommen zurück, Hochgefühl, Spannung und Vorfreude!

 

Rio de Janeiro, 31.03.2016: Sprachlos

So viel Freude es mir bereitet, manchmal stunden- und tagelang nach Wörtern zu suchen und sie in der Art zusammenzusetzen, dass sie ansatzweise angemessen beschreiben, was ich unterwegs erlebe, so muss ich jetzt doch kapitulieren.

 

Die Mutter meiner Freundin ist in der letzten Woche nach schwerer Krankheit verstorben.

Das kann und will ich hier und jetzt in keine Geschichte einbetten, sondern nur ganz nüchtern berichten, dass ich meine Reise aus diesem Grund unterbrochen habe; um dort sein zu können, wo ich in so einer Stunde hingehöre.

 

In diesem Moment sitze ich bereits wieder im Flugzeug, schaue herab auf das kleiner werdende Rheinland und zurück auf eine in vielerlei Hinsicht intensive Woche. Im Innersten dankbar, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. 

Colonia del Sacramento, Uruguay, 02.03.2016: Windgebeutelt

Patagonien, so sagt man, sei besonders wild und besonders schön.

 

Carretera Austral, Ruta Cuarenta... wenn Reisende oder selbst Einheimische von diesen Fernstraßen sprechen, die in den Süden Chiles und Argentiniens führen, schwingt Begeisterung, manchmal auch Ehrfurcht mit.

Doch meistens folgen sofort eine sorgenvolle Miene und der Ausspruch „¡muuucho viento!“, „viiiel Wind!“.

 

Jeder weiß eine Geschichte zu erzählen, die die vorhergegangene noch überbietet: von Fahrradfahrern, die nicht mehr vom Fleck kommen, sondern sich nur noch verzweifelt neben ihr Rad kauern, von abgerissenen, weil zur falschen Seite geöffneten Autotüren, von Motorrädern, die mit einem Mal in den Graben befördert oder von Lkw sogar, die einfach umgepustet werden.

 

Selbst herauszufinden, wie viel Wahrheitsgehalt hinter derartigen Mythen steckt, ist natürlich eine nicht unwesentliche Zutat in der Abenteuerwürze. Von mir aus hätten es ein paar Scoville weniger aber auch getan…

 

Die ersten paar Hundert Kilometer gen Süden sind noch recht harmlos. Windig ist es, ja, aber nicht außergewöhnlich. Schon bin ich geneigt, all die Geschichten als Märchen derer abzutun, die sich im Nachhinein besonders wagemutig geben möchten. Aber dann kommt er doch noch, der Wind.

Stündlich weht er mir stärker entgegen, vornehmlich von der Seite oder von vorne, um mich auch spüren zu lassen, was er kann. Und ich spüre.

 

Mittlerweile durchgehend in Schräglage fahrend, wie man sie sonst nur von Serpentinenstraßen kennt, rasen die Luftmassen über mich hinweg, ziehen, stoßen, zerren am Krad und an mir, derweil ich inständig hoffe, dass mein Kopf fest genug angewachsen ist. Die Hals- und Nackenschmerzen, die sich nach wenigen Stunden einstellen, erinnern mich an Headbang-Orgien vergangener Tage.

Besonders amüsant wird es, sobald noch Lkw mit ins Spiel kommen. Sind sie im Gegenverkehr unterwegs, eine Wand aus Luft vor sich herschiebend, gleicht jede Begegnung einer Bauchlandung vom Fünfmeterbrett. In der gleichen Fahrtrichtung ist es aber auch nicht angenehmer.

Um noch halbwegs die Kontrolle über das Mopped zu behalten, drossele ich meine Geschwindigkeit, werde nun aber regelmäßig von den Lastwagen überholt. Der Moment, wenn sich der Luftdruck plötzlich in Nichts auflöst, ich automatisch an die Flanke des Lasters gesogen werde und schlingernd versuche, möglichst wieder Distanz herzustellen… So müssen sich schwarze Löcher anfühlen.

 

Vom Motor oder den Reifen dringt kein Geräusch mehr an meine Ohren, zu laut ist das Windgetöse. Da der Druck aber gleichzeitig den Helm gegen mein Gesicht presst, sind Ohrstöpsel dennoch überflüssig.

 

Inmitten dieser Strapazen stelle ich fest, dass ich ein weiteres Problem habe: Irgendwo muss Benzin auslaufen; nur so kann ich mir den plötzlichen Rekordverbrauch von 8 Litern erklären. Das sind drei mehr als üblich! Ich lege mich also an, auf, unter das Krad, schnüffle buchstäblich in jeder Ecke herum, um die undichte Stelle zu finden. Vergeblich. Vielleicht hat mich ja doch der letzte Tankwart betuppt? Es spricht nicht gerade für meine Intellenz, dass ich einen weiteren Tag brauche, bis die entsprechenden Synapsen zusammengewachsen sind und mir zuflüstern, dass es der Kampf gegen die Mühlen des Windes ist, der das Mopped durstiger macht als jede Offroadstrecke.

 

Am nächsten Abend werde ich beim Tankstopp sogar von der Polizei gewarnt. Nicht vor tierischem Unbill diesmal, sondern vor luftigem. Bis zu 100 Stundenkilometer schnell sei der Wind heute. Und das sei gefährlich, wenn man nur zwei Räder hat. Da kippe man nämlich schnell um. Ich staune über so viel Tiefsinn, komme aber tatsächlich ins Grübeln. Wenn schon die Eingeborenen, die vermutlich gar nicht wissen, was eine Flaute ist, Sorge tragen, sollte ich die Warnung nicht leichtfertig in den… ach, sei´s drum: Wind schlagen. Andererseits habe ich wenig Lust, hier zwischen den Zapfsäulen zu zelten, und beschließe, meine Route fortzusetzen.

 

 

Natürlich verfluche ich mich in der nächsten Stunde mehrfach für diese Entscheidung. Als wäre die Schlafplatzsuche hier unten nicht kompliziert genug, liegt der erhöhte Schwierigkeitsgrad jetzt darin, in dieser völlig flachen Region zumindest einen kleinen Windschutz zu finden, um wenigstens anhalten zu können, ohne sofort zu Boden gedrückt zu werden.

 

In einer ungewöhnlich nachlässig umzäunten Kiesgrube werde ich schließlich fündig und verbringe die nächste halbe Stunde mit Aktivitäten irgendwo zwischen Paragliding und Zeltaufbau.

Die folgende Nacht stellt mein Zelt das erste Mal vor eine echte Bewährungsprobe. Genau wie meine Nerven. Als der Wind nicht wie gewohnt gegen Mitternacht ab-, sondern weiter zunimmt, eruiere ich ernsthaft, ob es jetzt vielleicht an der Zeit wäre, in Panik zu geraten. Ich entscheide mich dagegen, finde aber trotzdem kaum Schlaf.

 

Ich muss am nächsten Morgen nicht nur dreingeschaut haben wie ein zu früh aus dem Winterschlaf gerissener Salzkrautbilch, sondern wie ein sehr, sehr angefressener obendrein. Vielleicht aus Mitleid, vielleicht nur aus einer weiteren Laune heraus leitet die Natur von nun an die Phase der Versöhnung ein und zeigt mir ihre schöne Seite.

Der Wind nimmt bis zu einem erträglichen Maße ab und ich kann die wirklich spannenden Ecken dieser Landschaft genießen.

 

Zwar konnte ich mir beim Lauschen begeisterter Berichte immer vorstellen, dass Patagonien beeindruckt, aber nicht nachvollziehen, warum es zu den Top-Reisezielen vieler Weltgereister zählt. Jetzt schon. Fasziniert und ehrfürchtig wandere ich durch Nationalparks und bewundere Gletscher, die den Klimawandel nur müde belächeln, Bäume, die schon hier standen, als die Chinesen herausfanden, dass man aus ihnen Papier herstellen kann, und vor allem allerlei abgefahrenes Viehzeugs, das ich bisher gar nicht oder nur aus dem Zoo kannte.

 

Beeindruckt bin ich vor allem von der Vogelwelt, was mich selbst überrascht. Nandus, die man für Strauße halten könnte, fliehen hier an jeder Ecke auf äußerst amüsante, hektische Weise vor dem Knattern des Krads, Kondore sind da naturgemäß deutlich entspannter unterwegs, lassen sich zum Glück nicht vom Geruch irritieren, sondern vertrauen auf ihre guten Augen, als sie weit über mir kreisend nach Aas suchen. Daneben begegnen mir diverse andere komische Vögel, die zum Teil so witzig aussehen, dass ich laut lachen muss.

Am verbundensten fühle ich mich aber den kleinen Magellan-Pinguinen, die selbst eine plötzlich auftauchende (und ebenso schnell wieder verschwindende) Busladung Touristen geduldig ertragen, die mit Deppenzeptern vor ihren Schnäbeln herumfuchtelt, auf Besserung hoffend, aber in sich ruhend in den Wind schnüffeln, kurz die Aussicht von der Klippe genießen, um sich dann doch wieder in die gemütliche Erdmulde zurückzuziehen.

 

Ich beschließe, es ihnen gleich zu tun, dem Wind ebenfalls den Rücken zu kehren und langsam wieder Richtung Norden aufzubrechen. Trotz allem sehr froh, hier unten gewesen zu sein und mir selbst ein Bild gemacht zu haben.

  

Patagonien, so sagt man, sei besonders wild und besonders schön. In Wahrheit ist es noch etwas wilder. Und schöner. 

 

Lago Rupanco, Chile, 01.02.2016: Schlangen im Gras 2.0

Der Weg vom Andenrand im Norden Argentiniens in die Hauptstadt an der Ostküste führt mich nach wenigen Stunden in eine völlig andere Klimazone. Durch sattgrün bewaldete Täler – plötzlich heiß, feucht, neblig – geht es hinab in das pampige Tiefland.

Vorbei an schier endlosen Weiden, allesamt von kilometerlangen Zäunen umgeben, die das wertvollste Gut der Region sichern sollen: Roh-Steak in riesigen Herden.

 

Gegen diese Strecke nehmen sich die Pisten Sibiriens aus wie Serpentinenstraßen. Noch nie bin ich so viele Tage am Stück geradeaus gefahren.

Und noch nie habe ich mich dabei eines solchen Massenmordes schuldig gemacht.

Nun ist es trauriger Alltag, dass diverses Getier meinen Weg kreuzt und an Helm und Krad aufschlagartig sein frühzeitiges Ende findet. Ein Umstand, den ich zu akzeptieren gelernt habe, aber nach wie vor aufrichtig bedaure.

 

Geradezu in mein Gedächtnis eingebrannt hat sich so auch die Begegnung mit zwei Schmetterlingen irgendwo in der West-Ukraine: Entzückt sehe ich die beiden Geschöpfe der reinen Unschuld verliebt umeinander tänzeln… und im nächsten Moment an der Frontverkleidung meines Motorrades zer…, nun ja, schmettern. Die Folge: Ganz schlechtes Karma. Gepaart mit noch schlechterem Gewissen. 

 

Die argentinischen Kollegen treten hier hingegen nicht nur in Massen auf, sondern haben zudem noch völlig andere Vorstellungen von Moral und Sitte. In Gruppen von fünf, von zehn, von fünfzehn flügeln sie umeinander, bevor sie sich im Gras niederlassen, wo die Orgien ihren Höhepunkt finden. Entsprechend hoch ist die Zahl der hormonverstrahlten Opfer im Straßenverkehr. Die ortskundigen Autofahrer sind sich der Gefahr durch Überhitzung gewahr und bespannen ihre Kühlergrills mit Stoff, um die Insekten davon abzuhalten, hier auch noch rein zu flutschen.

 

An das hohe Schmetterling- und Kuhaufkommen reicht nur die Bullenpopulation heran.

Häufige Straßenkontrollen sind hierzulande zwar Alltag, aber dass an jeder größeren Kreuzung Streifenwagen stehen, ist ungewöhnlich.

Erst ein brasilianischer Biker, den ich beim Tanken treffe, klärt mich auf: „Have you heard, what happens in Argentina right now?“. Anders als erwartet, spielt er nicht auf die politischen Umwälzungen an, sondern meint den Ausbruch dreier Auftragskiller aus dem Hochsicherheitsgefängnis der Provinz Buenos Aires. Das ist genau meine Richtung.

Und tatsächlich sehe ich jetzt an jeder Tankstelle die immer gleichen Bilder der Geflohenen im Fernseher laufen, in der Dämmerung mischt sich das Getöse von Helikoptern in den Grillenreigen.

 

Dass dieser Abend stressiger ist, als gewöhnlich, ist auch der Ironie geschuldet, dass es im Land der weitesten Weiden zum ersten Mal richtig schwierig ist, einen Zeltplatz zu finden. Todo „privado“. Ich fahre so lange an Schranken, Gattern und Zäunen vorbei, bis ich mich entschließe, mein Zelt einfach mitten auf einem Feldweg aufzuschlagen, der den Spuren nach kaum befahren wird.

Völlig durchgeschwitzt gebe ich mich sofort meiner Flaschendusche hin. Da weit und breit kein Mensch zu sehen ist, brauche ich mir auch keine Gedanken um den Sichtschutz zu machen. 

 

Doch kaum bin ich komplett nass und eingeschäumt, rollt aus der Ferne ein Auto heran. Ich muss grinsen, weil es nichts gibt, das in diesem Moment ungünstiger wäre, als lediglich mit etwas Schaum bekleidet mitten auf dem Weg stehend fremde Menschen zu begrüßen. Und eben weil diese Szene so filmreif ist, bin ich mir sicher: Das wird nicht passieren. Der fährt vorbei. Ganz sicher!

Tut er nicht.

Ich habe gerade genug Zeit, um hektisch in Shirt und Shorts zu springen, da steht der Geländewagen auch schon vor mir. Darin der Farmer und seine beiden Kinder, die vor Erstaunen nicht mehr in der Lage sind, den Mund zu schließen. Tropfend und in einem Spanisch, das diesen Namen nicht verdient, erkläre ich, woher ich komme und was ich hier tue. Mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten kann, gibt er seine Erlaubnis zu meinem Verbleib und die an der Heckscheibe platt gedrückten Nasen der Kids verschwinden bald wieder in der Dämmerung.

 

Um dann doch endlich zum gemütlichen Teil des Abends übergehen zu können, verkrieche ich mich in mein Zelt, höre etwas Beruhigungs-Metal und genieße den Lärm in der Stille.

 

Ich schrecke hoch, als unvermittelt ein Lichtkegel mein Gesicht streift. Der Farmer kann es nicht sein, der war schließlich schon da. Da ich ansonsten keinen Besuch mehr erwarte, greife ich nach meinen Selbstverteidigungsutensilien und starre aus der Belüftungsöffnung in Richtung des Lichts. Erst zeichnen sich Scheinwerfer ab, dann die restlichen Konturen des Autos, das erst kurz vor meiner Nase zum Stehen kommt. Durch bestimmtes Hupen wird mir nahegelegt, herauszutreten. Erst als mich auch blaues Licht blendet, begreife ich: Polizei.

 

Die Aufgaben sind klar verteilt: Ein Cop befragt mich und prüft meine Papiere, der andere schaut böse drein und inspiziert Krad und Zelt mit demonstrativ gezückter Flinte.  

Als die beiden Herren endlich davon überzeugt sind, dass mein Gesicht nicht mit dem Steckbrief der Ausbrecher übereinstimmt, schlagen sie einen etwas freundlicheren Ton an und zeigen sich um meine Gesundheit besorgt. Ich solle auf keinen Fall durch das hohe Gras laufen, heißt es. Die Schlangen seien hier echt gefährlich. Sehr witzig. Alleine wäre ich wohl kaum auf die Idee gekommen, nachts barfuß durch die Gegend zu stapfen. Mit gequältem Lächeln verkneife ich mir den passenden Kommentar und verspreche stattdessen artig, ab jetzt immer Stiefel zu tragen.

 

Verabschiedet werde ich dann sogar mit Handschlag und einem aufmunternden „¡Suerte!“, viel Glück.

Als ich endlich wieder in meinem Schlafsack liege, denke ich noch etwas länger darüber nach, ob sie damit wohl die Tour, die Ausbrecher oder die Schlangen gemeint haben.

 

San Salvador de Jujuy, Argentinien, 7.01.2016: Der Preis der Schönheit

 

Die Frage nach dem bisher schönsten Land, dem schönsten Ort meiner Reise ist so häufig zu hören wie schwierig zu beantworten.

Wenn es aber eine Gegend verdient hat, in meine persönlichen Top 3 aufgenommen zu werden, dann ganz sicherlich der Norden Chiles und Argentiniens.

Nicht nur einmal höre ich mich während der Fahrt in den Helm jubeln. „Verdammt! Ist das schön hier!“

Selten habe ich irgendwo solche Sonnenuntergänge gesehen, die den Himmel förmlich in Brand setzen, selten so viele Sterne in der Nacht und noch nie solch abgefahrene Felsformationen. Man mag mich einen Lügner schelten, doch ich bleibe dabei: Hier steht ein roter neben einem blauen, neben einem grünen, neben einem gelben Berg. Magisch.

 

Besonders die Gegend in, um und an der Atacamawüste hat es mir angetan und das trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihrer Lebensfeindlichkeit. Als Wüste, die etwas auf sich hält, heizt sie sich tagsüber so extrem auf, wie sie nachts abkühlt, produziert dabei Winde, die einem Sand und Tränen in die Augen treiben, und hat in einigen Gegenden seit Jahrzehnten keinen Regen mehr gesehen. Atemberaubend.

 

Und zwar im wahrsten Wortsinne, denn hier oben bewegt man sich fast immer auf 2.500 Metern über dem Meeresspiegel. Oder deutlich höher.

Obwohl ich mein Krad mit ein wenig Vergaserfummelei dazu überreden kann, auf 3, auf 4, auf 5000 Meter zu kraxeln, leidet es sichtlich. Es hustet, würgt, spuckt schwarzen Qualm und klingt zusehends wie ein kranker Traktor. Und auch mir setzen Höhe und Trockenheit zu. Kleinigkeiten wie den Zeltaufbau bekomme ich nur noch im Zeitlupentempo geregelt, ein im Sand festgefahrenes Mopped bringt mich an meine Konditionsgrenze. Über 4000 Metern sind die Nächte unruhig. Immer wieder wache ich nach Sauerstoff ringend auf, mein Kopf schmerzt und meine Schleimhäute treten in den Generalstreik.

 

Dass diese Verfassung allerdings eher Memmigkeit als Heldentum zu verdanken ist, muss ich mir eingestehen, als ich irgendwo in den Anden Rast mache und sich am Horizont eine Zweiradsilhouette abzeichnet. Ich freue mich schon auf einen kleinen Moppedplausch, als ich geschockt feststelle, dass dort ein Mountainbiker auf mich zu geradelt kommt. Auf 4300 Metern. In Worten: Viertausend. Dreihundert.

Im strammen Tritt lässt er mich bald schon wieder hinter sich und mir bleiben nur der Gesichtsausdruck eines Grottenolms sowie der Vorsatz, wieder mehr Sport zu machen.

 

Vor diesem Hintergrund han ich off hin un her üvverlaat, ob ich von hier aus auch noch einen Abstecher ins südliche Bolivien wagen soll, wo sich der legendäre Salar de Uyuni befindet. Verschiedene Reisende haben mir diese riesige Salzwüste als ein absolutes Highlight ihrer Südamerikatour beschrieben, das man sich keinesfalls entgehen lassen dürfe. Auf der anderen Seite stehen die Information, dass die möglichen Wege dorthin sehr beschwerlich sind, sowie die Sorge, dass die ab Januar erwartete Regenzeit bereits eingesetzt haben könnte. Zehn Milliarden Tonnen Salz unter Wasser – das wäre der sichere Tod jeder Bordelektronik.

 

Da ich genug Zeit habe und mir ein Silvesterabend in der Wüste interessant erscheint, mache ich mich schließlich trotzdem auf den Weg. Hätte ich gewusst, was mich in den nächsten Tagen erwartet, hätte ich das wahrscheinlich mal schön sein gelassen und mir stattdessen ein paar entspannte Tage in irgendeinem netten Andendörfchen gegönnt.

 

So aber prötzele ich auf die bolivianische Grenze zu, bin angenehm überrascht, wie einfach die Einreise und wie wunderschön dieses neue Land sind, und habe 100 der 300 Kilometer bis Uyuni schnell hinter mich gebracht.

Der Spaß beginnt, als es erneut in die Berge geht und die Straße abrupt endet. Dachte ich bisher, dass tiefer Sand das Gemeinste ist, was einem offroad begegnen kann, so lerne ich jetzt, dass es die Kombination aus Sand und materialtötender Wellblechpiste ist, die mich die meisten Nerven kostet. Während man Letztere am besten mit relativ hoher Geschwindigkeit angeht, um die Querrillen zu überfliegen, anstatt jede einzelne zu errumpeln, kann zu viel Tempo fatal sein, wenn man im falschen Winkel auf eine Sandmulde zurast.

 

Und so verlange ich meinem Mopped einiges ab, voll des schlechten Gewissens, hatte ich ihm doch hoch und heilig versprochen, schlimmer als in der Mongolei werde es nimmermehr. 

 

 

Während einer der angenehmeren Passagen lasse ich meinen Blick verträumt über die Gegend streifen, wundere mich aber plötzlich, dass die Steine hier irgendwie härter sind als anderswo. Ich brauche zwei ewige Minuten, bis sich der Nebel lichtet und ich begreife, woran das liegen mag: der Vorderreifen hat seinen Atem ausgehaucht.

 

Yay, erste Reifenpanne! Die hat eindeutig noch gefehlt zur Anerkennung des Motorrad-Abenteuer-Siegels. Zu Hause hatte ich den Reifenwechsel schon einmal geübt, um auf den Ernstfall vorbereitet zu sein. Im Ergebnis war ich spektakulär gescheitert und mit hängendem Kopf zum Service getrottet. „Wenn es darauf ankommt, wird es schon klappen!“, hatte ich mich damals beruhigt.

Und wo käme es wohl mehr darauf an als hier mitten im gebirgigen Nichts, alleine und mit nicht mehr als ein paar krümeligen Keksen und kläglichem Wasserrest ausgestattet?

Ich begebe mich also beherzt ans Werk, unterstützt durch das aufmunternde Hupen und Einstauben der halbstündig vorbeifliegenden Allradautos.

 

Die Schuldigen an der Misere sind schnell ausgemacht (Stacheln des Sukkulenten Cactus anus) und diesmal zeichnet sich tatsächlich ein Erfolg ab. Meine Stimmung bessert sich weiterhin erheblich, als eine der rasenden Staubschleudern unvermittelt anhält. Mit José und Josefino steigen zwei unfassbar gut gelaunte Bolivianer aus und helfen mir wirklich. Nicht unbedingt mit geeigneten Handgriffen, aber umso mehr mit ihrer Fröhlichkeit, gewürzt mit „¡Viva Alemania!“-Rufen.

Mit wachsender Ungeduld warten sie, bis das Rad wieder luftgefüllt ist und an der richtigen Stelle sitzt, um endlich aufs Krad springen und für Erinnerungsfotos posieren zu können.

 

Als ich wieder weiterrolle, ist mein Zeitplan natürlich völlig entfugt. Bei der Ankunft in Uyuni nehme ich mir – nun meinerseits platt - eine Art Hotel und erlaube mir zum Silvesterabend den Luxus einer Matratze sowie eines Abendburgers in Bierbegleitung.

 

Der Ausflug zur Salzwüste wird also eine Neujahrstour und ist wirklich abgefahren. Zum Glück staubtrocken und unter strahlendem Sonnenschein präsentiert mir der Salar seine Salzfläche aus schier unendlich-horizontläufigen Hexagonen, deren Geometrie ich mir nur eingedenk außerirdischer Einflussnahme erklären kann.

 

So spannend es hier oben war, so unbequem ist der Gedanke an der Rückweg. Und tatsächlich gibt die Strecke mir auch retour wieder Saures.

Jetzt zu allem Ungemach mit bolivianischem Sprit unterwegs, von dem ich nicht garantieren kann, dass er auch nur ein einziges Oktänchen beinhaltet, geht die Motorleistung derart in die Knie, dass ich über zig Kilometer nur im hoch drehenden ersten Gang unterwegs sein und eine besonders fiese Steigung erst nach mehrfachem Anlauf bewältigen kann.

Die Bilanz: Ein abgerissenes Werkzeugfach, ein verlorener Rückspiegel und ein Verbrauch von extraterrestrischen 8 Litern.

 

Einen Tag später – jetzt wieder auf argentinischem Boden – treffe ich Igor und Ruta, zwei Litauer, die allen Ernstes mit 90-Kubik-Rollern durch Südamerika düsen und die hiesigen Pässe mit 8 PS bewältigen müssen. Da kann ich nur staunen und großen Respekt zollen.

 

Da ist sie wieder, die Erkenntnis der eigenen Memmigkeit, und ich fahre mit dem aufrichtigen Vorsatz weiter, mich über keine Piste mehr zu beschweren.

 

2015

Caldera, Chile, 19.12.: Ausgebremst

„Da läuft ja Öl aus.“ Der Kerl, der da auf meinen Motorblock zeigt, hat keine Ahnung, wie nah ihn dieser Satz an die Welt des Schmerzes heranführt. Ich habe ihn und seine Truppe soeben an der Straße nach Süden getroffen. Acht Leihmotorräder, besetzt mit acht Allgäuern, die sich eine gute Zeit in Patagonien machen wollen. Vor wenigen Sekunden haben wir noch fröhlich geplaudert, jetzt könnte ich ihm an die Kehle springen. Obwohl, nein, weil er Recht hat.

 

So weit die Institution, deren Namen ich mindestens ein Jahr lang nicht ausschreiben möchte, auch entfernt ist, in diesem Moment bin ich froh, die harte Ausbildung des Besserwissers durchlaufen zu haben.

 

Seien es die Szenen im Klassenraum, in denen sich die hochgelobte Individualisierung des Unterrichts allein dadurch realisiert, dass jeder etwas anderes macht (vorzüglich Musik hören, primäre männliche Geschlechtsorgane zeichnen, heulen, schlafen, essen, trinken, oder auch: nichts) oder die zahllosen Endloskonferenzen, während derer man sich nur durch die Nachahmung oben genannter Tätigkeiten der Entwicklung akuter Psychosen entziehen kann... jene Situationen haben mich gelehrt, in Extremsituationen zum Buddha mit Lotusblütenhaut zu mutieren. Ruhig bleiben, schlechtes Karma abperlen lassen.

 

Und so schaffe ich es, mir einzugestehen, dass der Öldetektiv zwar Auslöser, aber nicht Ursprung meines Zorns ist. Schließlich kann er nicht wissen, womit ich die letzten vier Wochen seit meiner Ankunft in Chile zugebracht habe.

 

Er kann nicht wissen, dass die umständliche Verschiffung zunächst dafür gesorgt hat, dass ich keine originalen Frachtpapiere in der Hand hatte und mehrere nächtliche Telefonate nach Russland und Südkorea führen musste, um an die unverzichtbaren Dokumente zu gelangen.

Er kann nicht wissen, dass in diesem Moment der Zoll beschloss, drei Tage in den Streik zu treten.

Er kann nicht wissen, dass nach langersehnter Ankunft meines Krades das Paket mit der neuen Hinterradbremse mehr als zwei Wochen verschollen war und DHL in derartigen Situationen die gleiche Kompetenzen offenbart, wie deutsche Telefongesellschaften beim Anschlusswechsel: Ignoranz, Heuchelei, Falschinformation.

Ebenso wenig kann er wissen, dass ich meinen Trip nach Ankunft und Einbau der Bremse mitnichten endlich fortsetzen konnte, sondern beim KTM-Händler in Santiago noch einige Dinge am Motor erledigen lassen musste, die meine bescheidenen Bastelfähigkeiten übersteigen.

Auch nicht, dass heute, nach fast zwei Monaten Abstinenz der erste richtige Tourtag ist.

Und schon gar nicht, dass dieses Schauglas, aus dem bei jedem zweiten Zylinderhub ein Tropfen Öl rinnt, nagelneu ist und erst vor zwei Tagen gewechselt wurde.

 

Ich komme also zu dem Schluss, dass Lynchmord keine adäquate Reaktion ist, verabschiede mich artig und suche mir einen Zeltplatz.

Diesen Abend verbringe ich damit, aufs Maisfeld zu starren und mir das Hirn zu zermartern. Ich will nach Patagonien. Unbedingt. Allerdings will ich ebenso sehr in vier Wochen meine Lady in Buenos Aires treffen. Ein Termin, der nicht zur Disposition steht, aber die Zeit im Süden begrenzt. Selbstverständlich ist morgen Sonntag, sodass die Reparatur mich mindestens zwei Tage kosten und die verbleibende Tourzeit weiter verringern wird.

 

Mir dämmert, dass es Unsinn ist, eine der wahrscheinlich beeindruckendsten Regionen des Kontinents unter Zeitdruck zu bereisen, und als die Sonne wieder aufgeht, steht der Entschluss fest: Ich breche den Trip in den Süden, ab, gebe dem KTM-Mechaniker in Santiago eine zweite Chance, fahre anschließend Richtung Norden und erst im Februar wieder Richtung Patagonien. Mit dichtem Motor und viel Zeit.

 

Mehrere Schichten Loctite-Schraubensicherung und Sekundenkleber verringern den Ölverlust auf ein erträgliches Maß und mit niedriger Drehzahl pröttele ich die 300 Kilometer nach Santiago zurück.

 

Manche Orte lassen Dich einfach nicht los…

Los Angeles, 13.11.: Zwischenschock in L.A.

Ich sitze noch keine 2 Minuten im Flieger nach L.A., da gärt in mir bereits das Gefühl, nach Strich und Faden betrogen worden zu sein. Ein Fensterplatz sollte es sein, alles andere war mir egal. Nun sitze ich auch tatsächlich unmittelbar an der Bordwand, ein Fenster ist hier allerdings nicht mehr eingelassen. Zu weit hinten. Ganz hinten. Vor mir ein junges Paar mit Quäkebaby, hinter mir die Bordtoiletten.

 

In den folgenden 10 Stunden hält mich also nicht nur die unfreiwillige Partizipation am jeder Menschenrechtskonvention widersprechenden Leben einer Erstwurf-Familie vom Schlaf ab, sondern auch das nervöse Gebrabbel harndranggeplagter Anwärter auf die nächste freie Kabine; sowie die sanitären Einrichtungen selbst.


Letztere lassen alles ihnen Dargebotene mit einem solchen Höllengetose in den Untiefen des Flugzeugs verschwinden, dass ich im Dämmerzustand der Übermüdung ernsthaft die Frage eruiere, ob der Unterdruck groß genug sein mag, um die gesamte Maschine aufzusaugen. In sich selbst. Einem schwarzen Loch gleich. Und ob die in den Nachrichten allgegenwärtigen Explo- in Wahrheit Implosionen der Flugzeuge sind. Verursacht durch schlecht geschulte US- oder gut geschulte IS-Ingenieure.

 

Vielleicht sind es diese verschwurbelten Gedankengänge, die meinem Hirn aus heiterem Himmel einen Wortwitz erwachsen lassen: Wie nennt ein Islamist seine neu eröffnete Kneipe..?

 

Da an Schlaf nicht zu denken ist, gebe ich mich dem Unterhaltungsprogramm hin. Die Filmauswahl fällt in dieser Umgebung denkbar leicht: Clockwork Orange. Horrorshow.

 

Endlich in Los Angeles gelandet, bin ich vollkommen verstrahlt. Mir fehlt eine ganze Nacht Schlaf und trotzdem komme ich 7 Stunden früher an als ich losgeflogen bin. Schon der Versuch, das zu begreifen, bereitet mir Kopfschmerzen und ich beschließe, die Physiker wegen dieser Teufelei noch weniger zu lieben als ohnehin schon.

 

Kaum habe ich mein Geraffel dem Gepäckband enthoben, begrüßt mich einer der zahlreichen Uniformierten, die scheinbar ziellos durch die Ankunftshalle schlendern. So fröhlich plaudernd, als säßen wir gemeinsam an der Hotelbar, fragt er nach dem Woher und Wohin, zeigt großes Interesse an den bisher bereisten Ländern und verabschiedet mich schließlich herzlich. Nicht ohne jedoch eine ominöse Kritzelei auf meiner Immigrationskarte zu hinterlassen.

 

Die Schlange an der Passkontrolle ist überraschend kurz, schnell wird ein Reisender nach dem anderen durchgewunken, dementsprechend lässig zeige ich meine Papiere vor. Der Blick der Grenzbeamtin bleibt an dem Zeichen ihres Kollegen haften und sie übersetzt mit knappen Worten: „Zur Zweitkontrolle. Da hinten.“

 

Die Schlange an der Zweitkontrolle ist überraschend lang, hier scheint gar niemand zu winken. Was die Wartenden eint, ist ihr nicht-amerikanisches Erscheinungsbild. Ich nehme das als Kompliment. 


Ein Beamter arbeitet sich durch die Menge, Pässe mit Gesichtern vergleichend. Als er vor mir steht, erkenne ich ihn wieder. Der Zeichenkritzler! Als wolle er das wiedergutmachen, weist er mich an, ihm zu folgen und eröffnet eigens für mich einen neuen Kontrolltisch. Zu liebenswürdig. Es folgen weiteres Ausfragen, die Ablehnung des Asylantrages und sofortige Abfallschiebung meines japanischen Frühstücksapfels sowie die Inspektion des Gepäcks. Als Höhepunkt darf ich ihm anschließend noch in einen Nebenraum zur Leibesvisitation folgen. Dieser Typ scheint tatsächlich ein persönliches Interesse an mir zu haben. Dabei hatte ich mehrmals meine Freundin erwähnt!

 

Während ich mit breitem Stand und den Händen an der Wand die Durchsuchung über mich ergehen lasse, schwindet meine Gelassenheit und ich spüre, wie Wut in mir aufsteigt. Langsam reicht´s. Die Präsentation meiner langzeit-gereiften Socken zur Fußsohleninspektion bietet ein wenig Genugtuung, dennoch mache ich drei Kreuze, als ich schließlich entlassen werde.

 

Ich bin das erste Mal in den Staaten und finde es völlig surreal, plötzlich im Reich von Mitch Buchannon, Poncherello und dem Prinzen von Bel-Air himself zu wandeln.

Bei der Fahrt nach Downtown-L.A. wird die Fiktion allerdings schnell enttarnt. Die Straßen sind vom Müll übersäht, in den Parks wohnen unzähligen Obdachlose der „neuen Generation“. In drei Stunden sehe ich mehr kaputte Menschen, als in den letzten drei Monaten zusammen.

 

In einem der deutlich schöneren Viertel komme ich bei einem Bekannten meiner Mom unter. Sergio, ein leicht exzentrischer, aber unglaublich liebenswerter, mexikanischer Künstler, empfängt mich aufgeregt, überschüttet mich mit Tortillas und Bier und gibt mir eine private Führung durch Hollywood. 

Auch hier zeigt sich die Realität weit weniger glanzvoll als erwartet. Viele Läden an prominentester Stelle sind völlig abgerockt oder stehen ganz leer. Nichtdestotrotz ist es abgefahren, Johnny Cashs Stern und Bruce Willis´ Fußabdrücke livehaftig bewundern zu können.

 

Der Nachhauseweg führt uns am CNN-Gebäude vorbei, beiläufig werfe ich einen Blick auf die Bildschirme. Irgendwas mit Terror. Plötzlich erstarre ich. Merde, das ist Paris! Ich bin der Einzige, den die Breaking New zu interessieren scheinen. Die Bilder lassen zu dieser Minute zwar noch keinen Rückschluss auf das ganze Ausmaß der Attentate zu, dennoch bin ich geschockt und schlurfe niedergeschlagen nach Hause.

 

Erstaunlich, wie schnell sich Einstellungen ändern können: mit einem Mal habe ich vollstes Verständnis für die peniblen Kontrollen am Flughafen. Außerdem kann ich – und das kommt sehr selten vor – so gar nicht mehr über meinen eigenen Witz lachen. Wobei Humor in diesen Zeiten vermutlich die stärkste Waffe ist. Allahu Ak-Bar.